Die größte deutsche Schwimm-Hoffnung für die Paralympics des nächsten Jahres in Tokio ist wasserscheu. „Naja“, gibt Elena Krawzow zu, „ich bin wirklich ungern im Wasser, das ist nicht mein Element, vor allem in einem See oder im Meer. Ich bin immer froh, wenn ich wieder „raus darf“, so die Leistungssportlerin. Das hat sich auch nicht geändert, seit sie mit 13 erst das Schwimmen gelernt hatte. „Auf der Schule damals in Nürnberg habe ich Michael Heuer getroffen, ein ganz toller Mensch. Er war für das Freizeitzentrum verantwortlich. Als ich bei ihm das Sportabzeichen abgelegt habe, da merkte er natürlich, dass ich nicht schwimmen kann. Das Hundepaddeln reichte zwar für die geforderten 50 Meter, aber Michael meinte, ich hätte gute Veranlagung zum Schwimmen“, erklärt die 1,75 Meter große und nicht einmal 60 Kilo schwere 25-jährige Krawzow.
Damals litt Elena bereits sechs Jahre unter der Erbkrankheit Morbus Stargardt, die die Sehfähigkeit stark beeinträchtigt und langfristig zur Erblindung führt. Was das Mädchen aber nicht davon abhielt, sich weiter sportlich zu betätigen und dem Schwimmen so zu widmen, dass sie sich gegenwärtig ausschließlich auf die nächsten Wettbewerbe und vor allem auf die Olympischen Spiele der behinderten Sportler im nächsten Jahr in Japans Hauptstadt vorbereitet. Nach Beendigung ihrer Ausbildung als Physiotherapeutin siedelte Elena vor drei Jahren des Sports wegen nach Berlin über, und der Berliner Behindertensport-Verband stellte sie zur Vorbereitung auf die nächsten Höhepunkte – die Weltmeisterschaft steht vom 9. bis 15. September an – frei. „Ich kann mich dank meiner Sponsoren voll auf den Sport konzentrieren. Gerade die Unterstützung der Spielbank Berlin hält mir finanziell den Rücken frei, sodass ich mir keine Sorgen machen muss, meine Kosten zu decken“, freut sich die Schwimmerin über die Partnerschaft.
Sport wurde Elena Krawzow nicht mit in die Wiege gelegt, als sie am 26. Oktober 1993 in der kasachischen Gemeinde Nowowoskresenowka auf die Welt kam. „Für Mädchen war Sport damals in meiner Heimat nicht akzeptabel, Nähen und Kochen waren da angesagt. Wir waren auch viel zu arm, um an Sport auch nur zu denken“, erinnert sich die junge Frau an ihre Kindheit. „Trotzdem möchte ich die Jahre in Kasachstan nicht missen. Ich liebe diese Kultur, die Tradition, die Erziehung. Die schwere Zeit hat mich geprägt.“
Als Elena elf wurde, zogen die deutschstämmigen Eltern mit der Familie nach Bamberg. Die Umstellung war gewaltig. „Das kann man nicht beschreiben – es war ein anderes Universum“, sagt sie. Für alle in der Familie war es anfangs sehr schwer, sich zurechtzufinden. Elenas Vater hat das trotz aller Anstrengungen für die Familie nie geschafft. Ihn zog es vor zwei Jahren zurück in die alte Heimat, Bruder und Schwester gingen wie die Mutter mit.
Die Trennung machte es für Elena nicht leichter, doch Abstriche von ihren sportlichen Zielen erlaubt sich die ehrgeizige und zielstrebige Kämpferin nicht. Unter Anleitung ihres Trainers Phillip Semechin bewältigt sie zehn bis zwölf Übungseinheiten pro Woche, trainiert sechs bis acht Stunden täglich. Neben dem Schwimmen viel Krafttraining, Ausdauer, Dehnungsübungen – frei gibt es nur sonntags. „Ich verstehe mich sehr gut mit meinem Trainer, habe volles Vertrauen zu ihm und großen Respekt“, beschreibt Elena das Verhältnis zum einst erfolgreichen Schwimmer, der als heute 34 Jahre alter Übungsleiter schon einigen Paraathleten zu internationalen Erfolgen verholfen hat.
Nun will Elena Krawzow ihre Sammlung bei der WM im September und nächstes Jahr in Tokio aufstocken. Die Weltmeisterschaften könnten dabei für sie einen speziellen Aha-Effekt bringen. Die Wettbewerbe finden im gleichen Londoner Becken statt, in dem ihr bei den Paralympics 2012 mit dem Gewinn der Silbermedaille über 100 Meter Brust einer ihrer schönsten Erfolge gelang. Auf dieser Strecke wurde sie im Folgejahr auch Weltmeisterin. Ihre wichtigsten Triumphe? „Ich bin auch stolz auf die EM 2018 mit dreimal Gold und besonders auf meine vier Weltrekorde über 50, 100 und 200 Meter Brust sowie 50 Meter Schmetterling“, versichert sie und nennt Brustschwimmen als ihre liebste Stilart.
Dabei sind Training und Wettkampf für die stark sehbehinderte Sportlerin nicht hundertprozentig mit denen sehender Schwimmer vergleichbar. „Meine Lernfähigkeit und die Umsetzung bestimmter Bewegungen sind eingeschränkt. Und ich muss einige Sachen erst an Land trainieren. Es fällt mir auch schwer, den Abstand zur Wand einzuschätzen und den richtigen Moment für die Einleitung der Wende oder des Anschlags zu treffen“, erklärt die Schwimmerin, die in der Startklasse 13 schwimmt, das heißt, ihr Sehvermögen beträgt nur zwischen einem und vier Prozent. Trotz dieses enormen Handicaps muss sich die Deutsche bei großen Wettbewerben der Konkurrenz von etwa 30 Frauen erwehren. „Zur Orientierung in meiner Paradedisziplin, den 100 Meter Brust, zähle ich die Schwimmzüge, bei guten Lichtverhältnissen hilft ein schwarzer Strich auf dem Boden. Aber bei Anschlag und Wende braucht man auch ein Quäntchen Glück“, sagt Elena lachend.
Das Lachen gehört zu der jungen Frau. „Klar, ich bin eine Kämpferin“, sagt sie, die neben dem täglichen Training auch gern feiert und tanzt. Mehr Aufmerksamkeit für Parasportler würde sie sich aber schon wünschen. „Wenn wir mehr in den Medien vorkommen würden, dann hätten die Leute auch bessere Einblicke in unseren Sport und die verschiedenen Behinderungen. Durch Präsenz in den Zeitungen und im Fernsehen würden Barrieren in den Köpfen abgebaut, die Scheu vor Menschen mit Behinderungen könnte viel effizienter überwunden werden.“ Mit ihren Leistungen will Elena Krawzow dazu beitragen. Für das Ziel Tokio hat sie in den vergangen beiden Jahren so viele Trainingskilometer zurückgelegt, dass sie die 8 915 Kilometer entfernte japanische Hauptstadt schwimmend erreicht hätte.
Hans-Christian Moritz