Die Berliner Eisbären spielen nicht. Die Saison ist zu Ende und wahrscheinlich genießen sie es, draußen zu sein und kaufen sich ein Eis, wie wir. Ich überlege, wer vor uns in der langen Schlange ein Eishockeyspieler sein könnte, als Julius mich anschubst und wissen will, wie viele Kugeln er bekommt: „Zwei, ja?“ „Eine.“ „Eine?“ „Eine.“ „Und du?“ „Zwei.“ „Warum?“ „Weil ich größer bin.“ Oh Gott, ist das ungerecht! Traurig guckt er zu mir hoch. Ich stell mir vor, wie wir in ein paar Jahren aussehen werden. Nach dieser Rechnung. Wenn ich wieder kleiner geworden bin und Julius ein Schrank; und wir nebeneinander an der Eisdiele stehen. Er wird 17 Kugeln in der Hand haben und ich eine halbe. Und so lange wird das gar nicht mehr dauern, schließlich gehöre ich noch zu denen, die in der guten alten Alu-Milchkanne, die mit Deckel und Handbügel, ihr erstes Eis geholt haben zum Geburtstag nach Hause. Was war das für ein Spaß, die Kanne am langen Arm durch die Luft zu kreisen, um sich herum und alles blieb drin. Heute zieht man nur noch selten los, um Eiscreme in Haushaltsgegenständen zu Mutti zu tragen. Heute tragen die Mamas und Papas die Kinder zum Eis. Heute gibt es auch nicht nur vier Geschmacksrichtungen. Heute, heute hat man bei einer einzigen Eis-Bestellung so viele Entscheidungen zu treffen, als ob man sich zum ersten Date mit seinem neuen Freund zurechtmacht: Waffel oder Becher? Wie viel, wie viel von was? Wassereis, Sahneeis, Milcheis, Pückler oder Frozen Yogurt? Bioeis? Zucker-, laktose- und oder glutenfrei? Und dann in Abhängigkeit davon – die Wahl des Geschmackes. Also Vanille-Schoko oder vielleicht doch Biscottino-Walnuss-Feige? Heißt: Klassiker bleiben oder Trend setzen. Und zu guter Letzt: mit Streusel, mit Soße oder ohne; und wenn ja mit welcher. Und all das im Vorübergehen, auf dem Nachhauseweg, kurz vor dem Spielplatz. Ich weiß nicht, wie es damals war, wenn man ins Monheim, das erste Eiscafé Berlins, ging. Vor 86 Jahren. Schlenderte man? War man fein gekleidet? Wie besonders war das? Heute gibt es in Berlin an fast jeder Straßenecke Eiscreme und oft auch gleich noch mal gegenüber auf der anderen Straßenseite. In Eisdielen, Supermärkten, Kiosken, im Späti, am Wannsee, im Internet, auf dem Fernsehturm, am Bahnhof … und trotzdem: Auch, wenn man es jeden Tag isst und egal, wie viele Entscheidungen man zuvor getroffen hat – es ist immer wieder ein unglaublicher Moment, wenn es die Lippen berührt und süß auf der Zunge zerschmilzt. Außer man isst lieber Leberwurststulle und ist nicht so der Naschtyp, wie meine Freundin Hanna. Apropos Leberwurst: Zu Hause hat man
heute meist auch Eis. Eiswürfel und Eiscreme. Im Tiefkühlfach. Wenn man es nicht gerade abtaut. Frau B. tat dies und gab ihre 16 noch tiefgefrorenen Bofrost-Eiscreme-Weihnachtsbäume in einer Tüte der Nachbarin zum Zwischenkühlen. Als sie wieder klingelte, zwei Tage später, reichte ihr diese nur die leere Tüte zurück. Eine Tüte. Nur mit dem einem Wort. Bitte. Nichts weiter. Kein Augenzwinkern. Kein Lächeln. Kein Witz. Warum nur? Ich weiß es nicht. War Wochenende? Kam Besuch? Eis verführt, so viel ist sicher. Und noch eins, dass diese Geschichte nicht lus-tig ist, weil sie kein Ende hat, weil man die leere Tüte in der Hand fühlt und mit im Hausflur steht. Weil …
„Und Ihr Wunsch?“, werde ich aus meinen Gedanken gerissen. Unsere Eisverkäuferin schaut mich lächelnd an: „Wie viele Kugeln?“ „Zwei“, stottere ich. „Zwei mal zwei“, schiebe ich hinterher. Ich habe es mir überlegt. Ich will ein schönes Ende. Julius schafft zwar nur eineinhalb, aber ich habe dann zweieinhalb und super Aussichten aufs Alter. Er strahlt mich an. Und ich ihn. Eis macht eben glücklich.
Ach so, und wenn ich mir wirklich etwas wünschen könnte? Dann, dass die Eisverkäufer wieder durch die Reihen im Kino gehen. Kurz bevor der Film beginnt.
Barbara Sommerer