Mit einer speziellen Aktion sichtet der Berliner Sport seine Olympiasieger von morgen und verhilft Kindern zu mehr Bewegung.
Patrick Hausding mogelt ein ganz kleines bisschen. „Ich bin auch gesichtet worden“, erklärt Deutschlands bester Wasserspringer zur laufenden Aktion „Berlin hat Talent“. Damit wollen der Landessportbund und der Senat gemeinsam mit Sponsoren hauptstädtische Jugendliche finden, die einmal das Zeug zum Olympiateilnehmer haben. Olympia-Medaillengewinner, Weltmeister und Dauer-Europameister Hausding gibt allerdings zu: „Mich hat damals ein Trainer der Wasserspringer entdeckt. Wenn der von einer anderen Sportart gekommen wäre, dann würde ich heute vielleicht als Eiskunstläufer oder Turner trainieren.“ Auf diese Spezialisierung ist die Initiative, die Klaus Böger als Präsident des Landessportbundes eine gesellschaftspolitische Unterlegung der Olympiabewerbung um die Spiele 2024 oder 2028 nennt, aber gar nicht angelegt. „Wir wollen schon bei kleineren Mädchen und Jungen den Erziehungsschwerpunkt Bewegung stärker in den Vordergrund rücken“, erklärt Böger, ohne auf die seit Jahren kursierende Meinung „Deutschlands Kinder sind zu dick und zu phlegmatisch“ einzugehen. Ergänzend sagt er aber: „Diese Initiative wendet sich nicht nur an Jugendliche, die sich für den Sport begeistern. Es sollen gleichzeitig die angesprochen werden, die, wie man fachlich sagt, motorische Schwächen aufweisen. Umgangssprachlich also jene, die sich nicht gern bewegen.“
Wie wichtig das im Zeitalter von Internet, Smartphone und Computerspielen ist, weiß der zweimalige Bahnrad-Olympiasieger Robert Bartko. „Die Weltgesundheitsorganisation empfiehlt, dass sich gesunde Kinder zwischen vier und 17 Jahren täglich mindestens eine Stunde auf sportlichem Niveau bewegen sollen“, doziert der heutige Vizepräsident des Berliner Landessportbundes. „Und wissen Sie, wie viele Kinder das tun?“, fragt er in die Runde bei der Vorstellung des Projekts. Dann macht er eine Pause und lässt seine Antwort wirken: „Es sind gerade einmal 15 Prozent der Kinder.“ Deshalb hat sich Bartko, der seit Dezember als Sportdirektor die Deutsche Eisschnelllauf-Gemeinschaft wieder auf Vordermann bringt, vor den Karren der Talentsichtung gespannt. „Es geht uns überhaupt nicht darum, Kinder zu vermessen oder wissenschaftlich festzustellen, in welche Sportart sie am besten passen würden und wo sie Erfolge für das Land einfahren könnten. Am Anfang soll der Spaß stehen. Und zwar für alle, die, die sich ohnehin gern bewegen, und auch solche, die diese Freude erst entdecken müssen“, sagt er. Die Breite und Vielfalt der Sportarten abzudecken sei daher gar nicht so schwierig, weil naturgemäß Kinder in frühem Alter ganz unterschiedlichen Bewegungsdrang haben.
In den vergangenen drei Jahren haben in Berlin 3 000 Mädchen und Jungen der 3. Klassen einen von Spezialisten entwickelten Motorik-Test absolviert. Die Zahl scheint gering, weil die Sichtung nur in den drei Stadtbezirken durchgeführt wurde, in denen die Eliteschulen des Sports stehen. Nun wird die Aktion auf die anderen Stadtbezirke ausgeweitet, voran Spandau und Steglitz-Zehlendorf. „Unser Ziel ist die flächendeckende Sichtung und Betreuung der Talente ab 2016“, gibt Bartko vor.
Da die Aktion sowohl personellen als auch finanziellen Aufwand erfordert, freuen sich Landessportbund und Senat über zwei potente Sponsoren, die wirtschaftliche Unterstützung für die gesamte Laufzeit zugesichert haben. Die Berliner Sparkasse und die AOK begleiten die Sichtung und auch die Förderung. „Es ist für eine Gesundheitskasse sehr sinnvoll, frühzeitig die Bewegungsfreude zu fördern und damit eine gesunde Lebensweise aufzubauen“, erklärt Werner Mall von der AOK Nordost.
Klaus Böger weist darauf hin, dass der Datenschutz hier ganz enge Grenzen zieht. Die Teilnahme am Test ist für alle Schüler freiwillig. Nach der Sichtung wird grundsätzlich erst mit den Eltern Kontakt aufgenommen. Das gilt für die Talente ebenso wie für die Mädchen und Jungen, bei denen motorische Defizite festgestellt werden. „Man kann nicht von oben anordnen, wer vielleicht auf eine Sportschule gehen soll“, weist der LSB-Präsident von sich, mit der Aktion auf die Talentsichtung der DDR-Sportförderung zurückzugreifen.
Deshalb ist neben der Mitarbeit der Schulen die Zustimmung der Eltern Voraussetzung. Was die Arbeit nicht immer leichter macht und manchmal noch zu deprimierenden Rückläufen führt. So haben sich von 400 getesteten Kindern mit motorischen Defiziten aus dem Stadtbezirk Charlottenburg-Wilmersdorf, deren Eltern angeschrieben wurden, überhaupt nur 50 wenigstens gemeldet. 30 davon erklärten sich bereit, die Mängel durch eine Mitgliedschaft in einem Sport- und Gesundheitspark abstellen zu wollen. „Das ist oft ein hartes Brot“, gibt Böger zu und erklärt, dass sich trotzdem nach einer Umfrage dreiviertel aller Grundschüler in diesem Gebiet mehr Sport in ihrem Leben wünschen.
Die positiv aufgefallenen Mädchen und Jungen werden zu sogenannten Talentiaden eingeladen, um im Beisein ihrer Eltern verschiedene Sportarten ausprobieren zu können. So wurden von 1 200 in Lichtenberg gesichteten Kindern 50 in die Talentsichtungsgruppen überführt. Da sei es das langfristige Ziel, sagt Böger, diese in die Eliteschulen des Sports aufzunehmen.
Bisher hatten die Vereine die Sichtung unter sich, stießen dabei aber an ihre Grenzen. „Sowohl die personelle Ausstattung mit Trainern und Übungsleitern als auch große Defizite bei Sportstätten oder gar Sporthallen haben hier deutliche Schranken gesetzt“, bedauert Sportstaatssekretär Andreas Satzkowski. Deshalb ist man froh, dass mit der Sparkasse und der AOK zwei potente Unternehmen als Unterstützer im Boot sitzen. „Wir müssen die Übungsleiter besser entlohnen, um Anreize zu schaffen“, weiß Satzkowski. Die Kosten für das gesamte Projekt werden auf etwa eine halbe Million Euro veranschlagt.
Patrick Hausding freut sich über die guten Ansätze, nimmt aber bei Verbesserungsvorschlägen kein Blatt vor den Mund. „Das dritte Schuljahr ist einfach zu spät“, sagt er aus eigener Erfahrung. „Das geht vielleicht für die Mannschaftssportarten. Aber so bewegungsintensive und motorisch anspruchsvolle wie Wasserspringen, Turnen, Eiskunstlauf müssen viel früher ansetzen. Da werden Talente entdeckt, spätestens wenn sie eingeschult werden.“ Wie Patrick Hausding eben.
Hans-Christian Moritz