Hauptstadt der Flaneure

Heute: Besuch auf Tussis Insel

Liebe Mitflaneure, 

diesmal treffen Sie Ihren Flaneur am Eingang zum U-Bahnhof Turmstraße. Mitten in Moabit also. Und damit auf einer Insel, Moabit ist umschlossen von den Wasserstraßen Spree, Berlin-Spandauer Schifffahrtskanal, Westhafenkanal und Charlottenburger Verbindungskanal. Die Insulaner sind jung, im Schnitt 39 Jahre alt. 25 Prozent von ihnen Ausländer, 44,4 Prozent haben einen Migrationshintergrund. Oder, präziser gesagt: Moabit ist der wahr gewordene Alptraum für Anhänger von Pegida oder der AfD. Wenn Ihr Flaneur eine blonde Frau wäre, würde er hier binnen einer halben Stunde getötet, missbraucht und in Scheiben geschnitten. Oder umgekehrt. Oder so. 

„Hallo, Kleener, was liegt an?!“

Gottseidank taucht der Mann auf, mit dem sich Ihr Flaneur zur Sicherheit hier verabredet hat. Hans misst 154 Zentimeter vom Scheitel bis zur Sohle. Obwohl der Flaneur vor dreißig Jahren von der Nordsee zum Studium nach Berlin gezogen ist, bezeichnet Hans ihn immer noch als „Rucksackberliner“. „Wir wollten für meine Kolumne durch den Kiez spazieren, in dem du aufgewachsen bist.“

„Komm einfach mit, Kleener.“ Die nächsten paar Minuten spazieren wir schweigend durch die Straßen. Auf diesem Teil der Insel dominiert roter Backstein, Plötzlich zeigt Hans triumphierend auf ein Straßenschild. „Und? Was ist das?“

„Die Thusneldaallee?“, lese ich unsicher ab. „Genau. Die kürzeste Allee in Berlin. 53 Meter. Die Kirche hier ist die Nummer eins. Nummer zwei gibt es nicht.“ 

„Die Kirche hier“ heißt übrigens Heilandskirche. Ihr Turm ist 87 Meter hoch. Könnte die Straße, in der er steht, also locker unter sich verbergen. Hans grinst zufrieden in seinen Bart hinein. „Hier um die Ecke bin ich mit meinem Opa oft gewesen. ‚Komm, wir gehen zu Tietzen‘ hat er immer gesagt.“

„Tietzen.“

„War ein jüdischer Kaufmann, der seinen Namen verkürzt hat.“ „Hertie“, murmle ich. „So“, entscheidet Hans. „Wir gehen jetzt noch in die Arminius-Markthalle.“

„Die wurde 1891 eröffnet. Außerdem ist sie die einzige Markthalle mit einem eigenen Theater.“ Ha! Da hatte ich mich doch nicht umsonst auf den Spaziergang vorbereitet. 

Hans hebt die Augenbrauen, bis sie seinen Haaransatz noch ein Stück weiter nach oben schieben.

„Junge, Junge. Du gehst nicht mal mit einem Freund spazieren, ohne vorher zwei Stunden lang im Internet zu schmökern.“

„Knapp eine“, winke ich ab.

„Na gut. Dann habe ich noch eine echte Angeberinformation für dich: Arminius starb vor rund 2 000 Jahren. Seine Frau Thusnelda ein paar Jahre danach. Ihr Name wurde von ein paar Schülern vor hundert Jahren verballhornt. Wie heißt er heute?“

„Keine Ahnung.“

„Tussi“, stellt Hans fest. „Am Stand dahinten gibt´s schöne Wurststullen. Du zahlst.“

 

Knud Kohr

 

04 - November 2015