Filme gucken in der Leichenhalle

Wie ein ehemaliger Hausbesetzer aus einem Krematorium ein Kulturzentrum machte.

Wenige Meter neben den Gräbern wummern die Bässe. In der Gerichtstraße 37/38, fünf Gehminuten von der U-Bahn-Station Wedding, liegt ein Urnenfriedhof. Hier ruhen die Attentäter des 20. Juli 1944. Die Leiche von Graf von Stauffenberg ließ Heinrich Himmler allerdings wieder ausgraben, um sie im angrenzenden Krematorium verbrennen zu lassen – die Auferstehung sollte so verhindert werden. 

Das Krematorium, 1912 eröffnet, war das älteste und größte Berlins, rund eine Million Leichen sind hier eingeäschert worden, außer der von Stauffenberg auch die des ersten Maueropfers, Ida Siekmann. 2011 schloss die Stadt das Krematorium. Ersteigert hat es der Filmemacher Jörg Heitmann. Das Krematorium ist weitgehend in seinem ursprünglichen Zustand erhalten, es steht unter Denkmalschutz. Sein Schornstein ragt in ein Wohngebiet, er ist länger als drei Busse hintereinander. Früher waren die Balkone der Nachbarhäuser ab und an mit Aschestaub bedeckt. 

Heitmann hat dem Komplex einen neuen Namen gegeben: Silent Green Kulturquartier. Filmemacher, Modeschöpfer, Werber, ein Musiker, ein Plattenlabel, eine Videospieldesignerin und eine Landschaftsarchitektin haben hier ihre Büros bezogen. Das Silent Green ist gleichzeitig ein öffentlicher Raum. Im Sommer lud das kapitalismuskritische Bartleby-Kollektiv zu einer Lesung von „Sag alles ab!“ mit anschließender Nachtwanderung ein. Supper-Clubs veranstalten regelmäßig Abendessen. Häufig treten Musiker auf, zuletzt die Cellistin Lori Goldston, die schon mit Nirvana auf Tour war. Das Arsenal Filminstitut hat gerade sein Archiv ins Silent Green verlegt. Filmbegeisterte können aus achttausend Titeln wählen. Während der nächsten Berlinale werden Filme der Reihe Forum Expanded in der Trauerhalle des Silent Green zu sehen sein.

Die Trauerhalle war ein beliebter Umschlagplatz für Drogen; Dealer versteckten ihre Ware in den Urnen. 150 Urnen waren noch übrig, als Heitmann die Schlüssel überreicht bekam. „Die Friedhofsverwaltung riet mir, sie wegzuschmeißen, doch das brachte ich nicht übers Herz.“ Dem ehemaligen Betreiber blieb nichts anderes übrig, als die Urnen mitzunehmen. „Wahrscheinlich hat er sie dann weggeschmissen“, vermutet Heitmann. Heitmann, fünfzig Jahre alt, graue Locken, schwarz umrundete Brille, ehemaliger Hausbesetzer, macht seit bald dreißig Jahren Filme, vor allem im dokumentarischen und experimentellen Bereich. Mit seiner Partnerin Bettina Ellerkamp wollte er 2002 einen Science-Fiction-Film drehen. 

Weil sie keine Förderung fanden, kaufte Heitmann bei Jena ein Grundstück mit einem Berg obendrauf. Für viel Geld plante er, das Gelände an ein Rechenzentrum zu vermieten. 

Dann fiel der Firmenchef beim Joggen tot um, der Deal platzte, und Heitmann stand vor einem Berg Schulden. Acht Jahre lang kaufte er leer stehende Gebäude und baute Luxuswohnungen, bis er die Verluste ausgeglichen hatte. Über den Berg drehen Heitmann und Ellerkamp zurzeit einen Film. In einem Jahr dürfte er fertig sein, „vielleicht läuft er dann sogar auf der Berlinale“, hofft Heitmann.

Lea Wagner

 

04 - November 2015