Berenice Abbott (1898 – 1991) zählt zu den wichtigen Fotografinnen des 20. Jahrhunderts. Sechs Jahrzehnte fotografierte sie. Der Martin-Gropius-Bau widmet ihr eine Ausstellung mit rund 80 Aufnahmen.
Ein Eckhaus, das schmal wie ein Knäckebrot in die Höhe wächst, imposante Brücken, die von der Ingenieurskunst erzählen, Holzhäuser, Klinkerbauten, Marmorpaläste – im New York der Dreißiger-jahre existiert alles nebeneinander. Aber immer mehr Wohn- und Gewerbehäuser der Jahrhundertwende weichen dem rasanten Stahlgerüstbau. Ganze Quartiere werden abgerissen. Eine Metropole im Wandel. Und eine Frau, die mit ihrer Kamera durch die Straßen zieht und genau diese Veränderungen, elektrisiert von der Dynamik des Neuen, dokumentiert. Die Wolkenkratzer und die Schuppen an den Piers, kleine Läden und die Bankpaläste, das alte und das moderne New York, dessen Skyline bis heute begeistert. Berenice Abbott (1898 – 1991) dokumentierte ihre Stadt. Erstmalig ist in Berlin eine retrospektive Auswahlschau von 80 Fotografien im Martin-Gropius-Bau zu sehen. Den Schwerpunkt der Ausstellung bilden sechzig verschieden große Abzüge, die die Fotografin in den 1970er-Jahren noch selbst abgesegnet hatte, und die einen Einblick in ihr Lebenswerk „Changing New York“ ermöglichen. Gezeigt wird auch Wissenschaftsfotografie aus den späteren Jahren und frühe Porträts der Pariser Kunstbohème, darunter ein Foto ihres großen Vorbildes, Eugène Atget, dem Paris-Fotografen der Jahrhundertwende.
In vier Jahren, von 1935 bis 1938 hatte sie die Stadt auf Augenhöhe, aus Vogel- und Froschperspektive hundertfach abgeknipst, Morgendunst und stille Mittagszeit, Schatten und Industrierauch, möglichst aber ohne emotionalisierende Effekte. Die Negative und Abzüge von „Changing New York“ werden im Stadtmuseum von New York aufbewahrt.
Es sind klar gebaute, sachliche Schwarz-weiß-Fotos, die von ihrer Leidenschaft für die Selbsterneuerungskraft der Metropole zur Zeit der Wirtschaftskrise erzählen und dabei die Frage nach dem Kunstwert des Dokumentarischen aufwerfen. „Meine Photos sollen Dokumentation und Kunst zugleich sein ... ich werde Mittel der abstrakten Kunst verwenden, wenn dies dem Objekt am angemessensten ist; sie sind dem Realismus verpflichtet, doch nicht um den Preis sämtlicher ästhetischer Aspekte.“ Mal benutzt Berenice Abbott die Kleinbildkamera, mal eine Fachkamera, die Assistenten positionieren. Mit Weitwinkel und Teleobjektiv verdichtet sie den Stadtraum in ihren Ablichtungen zu einem Rastermeer. Dokumentarische Fotografie, so Abbott, sei der echteste, vom Malerischen befreite Ausdruck der Fotografie. „Fotografie bringt dir nicht bei, wie du deine Gefühle ausdrückst, sie bringt dir bei zu sehen.“
Abbott hatte zunächst an der Ohio State University Journalismus und ab 1918 in New York Bildhauerei studiert, ehe sie gemeinsam mit Man Ray 1921 nach Paris aufbrach. Und eher zufällig begann sie im Atelier des prominenten Künstlers als Assistentin mit eigener Fotografie. Das moderne Medium wurde ihre Obsession.
Anita Wünschmann
Information
Berenice Abbott – Fotografien
Ausstellung bis 3. Oktober 2016
Martin-Gropius-Bau