Hauptstadt der Flaneure

Liebe Mitflaneure, ein kurzer Blick durchs Fenster zeigt: Der Berliner Sommer hat seine kurze Regentschaft über die Stadt begonnen. 

Was nun zu tun ist, schlägt seit Jahrzehnten ein zum Volkslied gewordener Schlager vor: Badehose einpacken, und dann geschwind durch den Grunewald ab nach Wannsee ins Strandbad. Eröffnet wurde es 1907. Mit 1,3 Kilometern Sandstrand und Platz für bis zu 30 000 Gäste zählt es zu den größten Binnenseebädern Europas.

Ein Ort, an dem der Flaneur durchaus verweilen kann. Gemeinsam mit Heerscharen anderer Besucher einen Sonnenbrand riskieren. Oder durch das großzügige Auftragen von Sonnencreme nach kurzer Zeit aussehen wie ein paniertes Schnitzel.

Werfen wir einen Blick auf das gegenüberliegende Ufer des Großen Wannsees. Auf wenigen hundert Metern reihen sich Villen aneinander, in denen sich wichtige historische Ereignisse des letzten Jahrhunderts zutrugen. Kulturgeschichtlich bedeutsam die einen, mörderisch und erschreckend die anderen.

„Mein Schloss am See“ nannte der Maler Max Liebermann seine Villa, in der er mit Familie im Sommer Ruhe vor dem Lärm der Großstadt fand. In dieser Oase malte Liebermann als einer der bedeutendsten Vertreter des deutschen Impressionismus die meisten seiner Werke. Mit dem aufkommenden Nationalsozialismus zog sich Liebermann immer öfter an den Wannsee zurück. Nach dem Tod des jüdischen Malers 1935 musste seine Witwe zwangsweise das Haus verkaufen. Erst 2006 erreichte die Max-Liebermann-Gesellschaft, dass das Haus mitsamt Garten vollständig renoviert als Museum mit wechselnden Ausstellungen genutzt wird.

Düstere Erinnerungen an deutsche Geschichte werden wenige Minuten Fußweg entfernt bewahrt. Im „Haus der Wannsee-Konferenz“ wurde am 20. Januar 1942, im Speisezimmer der Villa, innerhalb von 90 Minuten der Völkermord an den europäischen Juden beschlossen. Das Protokoll führte Adolf Eichmann, es wurde 1947 in den Akten des Auswärtigen Amtes gefunden. Im selben Speiseraum wird heute das damalige Geschehen durch Unterlagen aus den Akten der Täter, aber auch durch Aussagen der Opfer sowie durch Fotos und Filmsequenzen dokumentiert.

Liebe Mitflaneure, ein dunkles Kapitel deutscher Geschichte, das zum Nachdenken und Nachlesen anregt. 

Gleich um die Ecke im Restaurant Haus Sanssouci mit herrlicher Terrasse und ebensolchem Blick lässt es sich gut verweilen, ob bei Kaffee und Kuchen oder für den kleinen und großen Hunger vom leichten Salat bis zur schweren Roulade. Wer noch Lust auf ein paar Gläser Wein hat – die Terrasse ist bis Mitternacht geöffnet.

Einen schönen Sommer!

Knud Kohr

 

05 - Sommer 2016