Hauptstadt der Flaneure

Liebe Mitflaneure, draußen vor den Fenstern hat die dunkle Jahreszeit Einzug gehalten. Die Tage verabschieden sich schon gegen 16 Uhr, und machen wir uns nichts vor – bis Mitte April wird sich daran wenig ändern. Im Gegenteil: Der Nachtfrost reibt sich schon die blauen, klammen Hände und wartet auf seinen ersten Einsatz für dieses Jahr. Es ist also am besten, sich diesmal nicht auf Experimente einzulassen. Und bei plötzlichen Wetterumschlägen stets ein Dach über dem Kopf in der Nähe zu haben.Wir starten also am Ostbahnhof. Direkt neben den Gleisen plätschert die Spree entlang. Vor allem aber wurden hier Reste der Mauer zur „East Side Gallery“ gemacht. Während wir vom Stralauer Platz die Mühlenstraße entlang schlendern, befinden sich wenige Meter von unserer rechten Schulter entfernt Bilder, von denen es einige zu Weltruhm gerbracht haben:  Dimitri Wrubels Bruderkuss von Erich Honecker und Leonid Breschnew zum Beispiel. Oder Birgit Kinders „Test the Best“, auf dem ein Trabant einfach durch die Mauer hindurchfährt.„Parking? Parking? How much?“

Eine Japanerin mittleren Alters hat ihren Wagen am Straßenrand geparkt. Nun springt sie von einem Passanten zum nächsten und versucht herauszufinden, wo sie ein Parkticket kaufen kann. „It’s free“, beruhigen wir sie. „Free? At a place like this?“ Sie kann es gar nicht glauben.

Von der anderen Seite der Straße lächelt ihr die Mercedes-Benz-Arena milde über die Schulter. Schräg hinter ihr schnarcht das „Berghain“, Berlins wahrscheinlich bekanntester Club. Mit den vermutlich erbarmungslosesten Türstehern des Universums. 

Nach knapp zwei Kilometern endet die East Side Gallery. Der Tag ist schon ein bisschen grauer geworden, und der Magen meldet sich. Da hilft nur „Brunchen – lunchen – chillen“. So wirbt jeden-falls das „Via Nova“ in der Revaler Straße. Einen Salat mit gegrilltem Hühnerfleisch später müssen wir aufpassen, unseren Aufenthalt nicht in Richtung „einschlafing“ zu übertreiben.

Also beenden wir die Tour für heute an den Treppen, die auf die Bahnsteige des S-Bahnhofs Warschauer Straße führen. An deren oberem Ende lauern einige Kioske auf Kundschaft. Hier gibt es keine Kunst zu sehen. Die Türen stehen jedem offen. Egal, ob er mit einer Pulle Bier brunchen, mit einem Kümmerling lunchen oder einem Döner chillen möchte. Wir stellen uns ein bisschen dazu, wobei uns eine Flasche „Schwipp Schwapp“ die Langeweile vertreibt. Dann setzt die Dämmerung ein. Ist ja auch gleich fünf. Wir steigen in die nächste U-Bahn, die uns sicher aus dieser Geschichte fährt.

Bis zum nächsten Mal.

Knud Kohr

 

06 - Winter 2016